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Der dreifache Aufstieg in den 17. Himmel

Doch tun wir Diotima nicht überhaupt Unrecht? Betont sie im Verlauf der von Sokrates berichteten Rede, insbesondere im Mythos vom Aufstieg zur "Idee des Schönen an sich" (vgl. 210d ff.), nicht die unhintergehbare Bedeutung der Zeugung, einschließlich der "geistigen Zeugungen" sowie der Teilhabe an Unsterblichkeit? Und geschieht das nicht in einer mustergültig platonischen Form des Aufstiegs vom vergänglichen Einzelnen zum beständigen Allgemeinen, vom Vielen zum Ureinen, von der doxa zur idea - also in klassisch sokratischer Art und Weise? So scheint es auf den ersten Blick, auch wenn etwa die Rede von einer "Zeugung aus dem Nichts" (vgl.205b-c) oder von den uneigentlichen und sozusagen kompensatorischen Weisen der erotischen Liebe, etwa "in Gelderwerb oder in Leibesübungen oder in der Philosophie(!)" dem Sokratiker wiederum auch zu denken geben.

Dieses dreistufige Diotima-Modell des Aufstiegs zum Schönen sieht so aus, daß zunächst der männlich begehrende Eros der Schau des Schönen dient, zweitens dieses Schöne seinerseits (also das Aphroditische selbst!) der allseitig verstandenen "Zeugelust" dient, und drittens diese allseitige, Körperliches wie Geistiges umfassende Zeugelust schließlich der "Teilhabe an Unsterblichkeit" dient. Darum geht es, glauben wir der weisen Frau, zuletzt in allem: um erfahrene, erlebte Teilhabe an Unsterblichsein. Dies relativiert den bisher hervorgehobenen "Absolutheitsanspruch" des Aphroditischen natürlich entscheidend, denn es ist in Wahrheit selbst in ein "Lehnsverhältnis" verjocht, nämlich in jenes, der Zeugung zu dienen (die wiederum der erfahrenen Teilhabe an Unsterblichem dient).

Dies weist zweifellos Parallelen zu jenem großen Anabasis-Mythos des PHAIDROS auf, wenngleich dort die Gewichtungen in mancher Hinsicht wiederum andere sind. Im PHAIDROS-Mythos geht es um ein je schon innergeistiges oder genauer: inner-anamnestisches Geschehen. Innerhalb dieses sokratischen Aufstiegs zum Sein ist die Zwiespältigkeit des Menschen, gemischt aus Erinnern und Vergessen, auch nicht, wie bei Diotima, ein entscheidender Mangel, sondern notwendiger Stachel und Anstoß zur Suche, wie überhaupt Sterbliches und Unsterbliches im Phaidros immer schon in der Wahrheit eines Unvergeßlichen, des Seins der Anamnesis, zuletzt ihre Einheit finden.

Für Diotima aber ist diese "geistige Schau" der Lebensgründe, wie sie Sokrates mustergültig im Phaidros behandelt, zwar gar nichts geringes, aber sie kennt offenbar noch etwas, das dies gleichsam seit jeher an Bedeutung für das Leben überbietet und wohl auch an erfahrener Intensität und erlebter Teilhabe an Unsterblichkeit übertrifft. Diese tiefste Vereinigung mit dem Sein ereignet sich in ihrer Erfahrung nicht (nur) kontemplativ und philosophisch, sondern gleichsam im erotisch-liebenden Vollzug jenes unvordenklichen und heiligen Regenerationsritus des Lebens selbst, in der vollständigen Hingabe an das Leben im unmittelbaren Akt des Zeugens. Wohl nur eine ebenso aphroditische wie mütterliche Lebensweisheit vermag darin untrüglich den tiefsten Mitvollzug des lebendigen Lebens und der Unsterblichkeit zu erkennen.

Während für Sokrates die Anamnesis "der Königsweg" der Philosophie bleibt, weil in ihr der Mensch den "Rückweg" zur Herkunft und zum Ursprünglichen findet, ist dieser "Aufstieg" zur Wahrheit des Lebens für Diotima und ihr organisches Verständnis des zeugenden Lebens zugleich immer auch ein seliges Versinken in den Neeren der aphroditischen/erotischen Lebenslust, in denen, wie Nietzsche einmal notiert, Leben und Tod liebend beisammenwohnen.

Dieses ins Ontologische geweitete Zeugungsmysterium hat es deshalb weder nötig, den "Geist" auf Kosten "des Körperlichen" (oder gar eines vermeintlich "Weiblich-Ungeistigen") zu profilieren, noch jenes aus sich selbst heraus heilige, schöne, zeugende und auf Lebenserneuerung zentrierte "weibliche Leben" im Namen irgendwelcher exzentrischer Vergeistigungen oder unfruchtbarer Sublimierungen als bloßes Werk einer "Aphrodite pandemos" zu denunzieren. Nur sehr lebensferne oder besonders hysterische Geister können sich über diesen heiligsten Ritus des Lebens selbst, den Diotima in allem am Werk sieht, erhaben oder enthoben wähnen - und dazu wollen wir Sokrates unter keinen Umständen zählen.

In dieser großen Gebärmutter Leben ist zwar auch für die geistigen Formen des Zeugens Raum, aber sie beharrt gleichwohl auf der Einsicht, daß dies eingebettet ist (und bleiben muß) in jenen organischen und stets erotischen Zeugeritus des Lebens selbst: das künstlerische/philosophische Werk als jene Verlängerung der organisch schaffenden Natur also, von der Goethe gelegentlich spricht. Diese sind gleichsam immer abkünftige Formen, Derivate oder, wenn sie besonders großen Sinn machen, Verlängerungen jener elementaren Vereinigungs- und Zeugelust des Lebens selbst. So unbestreitbar - zumindest in philosophischer Hinsicht - die von Sokrates wiedergegeben Gedanken Diotimas auch manche Grenze und blinde Stelle offenlegen, so wesentlich, denkwürdig und aktuell bleibt doch diese, in ein erotisch unbeschnittenes und lebendigeres Leben zurückrufende Grundidee.

Der bemerkenswerteste philosophische Gedanke der Diotima aber ist dabei wohl in jener selbstverständlichen Nichttrennung von Geist und Körper, und noch mehr von Sein und Werden zu sehen. Das Sein wird in Diotimas Erfahrung in keinem Augenblick als bloß abstrakter, "transzendenter" und als solcher zwangsläufig jedes lebendige Leben abtötender Gegensatz zum Werden, sondern vielmehr als in sich selbst werdehaft, erotisch und zeugend erfahren. Und ist diese unablässige "Seinswerdung" und creatio continua am Ende nicht auch für den Sokrates des Phaidros das eigentlich Unsterbliche? Dieser Einklang im Großen und Ganzen aber wiegt zuletzt manchen Dissens im Detail auf. Die Differenzen zwischen Sokrates und Diotima - auch sie sind zuletzt wohl nur ein Ausdruck der Wahrheit jenes erotischen "Liebesstreites" selbst, der sich befruchtend und unterschiedlich auffächert, anstachelt und am Ende doch immer das Eine meint und will: Teilhabe am lebendigen und unsterblich pulsierenden Lebensstrom selbst.

Dieses zuletzt in der Diotima-Rede anklingende "heraklitische Erbe" der Einheit von Sein und Werden entzieht bei genauerer Betrachtung freilich auch dem zuvor wiederholt angeführten "Bedürftigkeits"-Argument des "männlichen Eros" (bzw. dem "Unbedürftigkeits"-Argument des Aphrodotischen) jede Grundlage. Denn Eros ist demnach - als die universale, durch den aphroditischen Liebreiz und dessen Dienst am zeugungslustigen Leben und den "männlichen Eros" als Zeugekraft und Dienst am schönen aphroditischen Leben gleichermaßen hindurchwirkende Werdekraft des Seins selbst - zuletzt bedürftig allein nach sich selbst. Oder anders formuliert: Eros - gleichgültig ob nun aphroditisch oder hesiodisch gewichtet - ist deshalb unstillbar, weil das Sein im tiefsten diese erotische Werdelust selbst ist.

Ach ja, kurz vor Ende dieses Männergelages stieß, gleichsam als Satyrspiel, noch der sturztrunkene Alkibiades zu den Versammelten. Der Berauschte erwies sich vielleicht als der Besonnenste, als er die Frage, ob Eros nun im Liebenden "oder" im Geliebten anwese, auf eine Weise auflöste, die sowohl Sokrates zufriedengestellt haben dürfte wie auch Diotima gerecht wird: Sokrates selbst, so lallte Alkibiades dem (wenn sich das Bökchen recht erinnert) schon vom Schlaf erlösten Agathon zu, "hintergehe" nämlich immer auf die Weise, daß er so tue, als sei er der Liebhaber, aber in Wahrheit sei er doch selbst immer der Geliebte... Mehr konnte Alkibiades nicht mehr sagen. Der Berauschte spricht wahr - denn wer wollte bezweifeln, daß Eros zuletzt etwas zwischen dem Liebenden und dem Geliebten ist, das beide gleichermaßen aus dem Trott reißt und so beide über sich hinauswachsen läßt.



© HD Jünger (Originalbeitrag)

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